Josef Škrábek: An den deutschen Leser

Die erste tschechische Ausgabe des Buches „Die gestrige Angst“ kam zu Jahresbeginn 2003 in die Buchläden und fand schnell ihren Weg zu den Lesern. Das Verlagshaus folgte dem Ruf der Buchhändler und lieferte einen unveränderten Nachdruck. Die allgemeine Befürchtung, ein solches Buch werde seine Leser nicht unbedingt unter den Höchstverdienern finden, wurde vom Autor berücksichtigt. Er subventionierte den Preis mit fast der gesamten finanziellen „Entschädigung“, die ihm für seine in kommunistischen Gefängnissen verbrachten Lebensjahre zugesprochen worden war. Meinungen und Stellungnahmen wurden demzufolge nicht durch Subventionen beeinflusst und sind ausschließlich die des Verfassers, was für diesen hinsichtlich seiner Verantwortung keine Erleichterung bedeutet hat. Für die zweite tschechische Ausgabe wurden nur unwesentliche Änderungen vorgenommen, auf Anregung zahlreicher Leser jedoch manches erweitert und ergänzt. Bereits die erste tschechische Ausgabe vermittelte den Lesern vieles, wovon die Öffentlichkeit in Tschechien bisher kaum eine Vorstellung hatte. Das deutschsprachige Resümee soll in erster Linie deutschen, insbesondere sudetendeutschen Lesern dienen.

 

„Die gestrige Angst“ ist ein Seufzer über die vergangenen Streitigkeiten und über den heutigen Streit über unsere früheren Streitigkeiten.

 

-           Es gibt so gut wie kein Argument ohne Gegenargument.

-           Zu oft kennt jede Seite eine ganz andere Schilderung derselben Tatschen - und auf jeder Seite gibt es wesentliche Punkte in der Geschichte, von welchen die andere nichts weiß (wissen will?).

-           Man kann sich gegenseitig nichts beweisen und es ist fast unmöglich, andere von der eigenen Überzeugung zu überzeugen.

 

 

Kein übliches Resümee

 

-           „Die gestrige Angst“ ist keine wissenschaftliche Arbeit, ich habe lediglich versucht, dem Bild der Vergangenheit mehr Kontur und Farbe zu geben.

-           Kein Buch kann diese Problematik vollständig behandeln. Auch meinem fehlt sehr viel Wichtiges – weil ich nicht alles weiß – und weil ich auch die geehrten Leser mit einem zu dicken (und damit teureren) Buch nicht abschrecken möchte.  

-           Ich habe mich bemüht, manches Neue, aber auch Altbekanntes in neuen Zusammenhängen zu zeigen. 

-           Kein Buch über diese Problematik kann beiden Seiten völlig gerecht werden. Ich erwarte auch nicht, dass man im Ganzen mit mir einverstanden sein wird.

-           Was im Kursivdruck im Buch vorliegt, nennt sich „Geschichte, persönlich erlebt und erlitten“,  was jedoch tschechisch etwas anders „klingt“.

-           Ursprünglich habe ich begonnen, eine Inventur der gegenseitigen deutsch-tschechischen Vorwürfe, Streitigkeiten und unterschiedlichen Behauptungen zusammenzustellen. Links die einen, rechts daneben die anderen. Gemeinsame Geschichte in zwei Spalten. Wie einfach ist eine Idee, wie kompliziert das Leben und ganz besonders das geschichtliche Leben längst schon Verstorbener. Im Unterschied zu den Jahren von 1848 bis 1948 trifft man heute glücklicherweise kaum mehr so viele einseitige nationale Vorurteile.

-           Die Bereitschaft, ohne Scheuklappen die Vergangenheit zu sehen, wächst auf beiden Seiten (sofern Tschechen und Deutsche heute überhaupt noch auf getrennten Seiten stehen). Urteilen soll man ohne Vorurteile – aber gerade diese überleben hier wie dort. Auf beiden Seiten gibt es Menschen guten Willens, die noch nicht gemerkt haben, dass sie voreingenommen den Stimmen der anderen zuhören.

-           In der „Gestrigen Angst“ wird nicht nach objektiven, stets beiderseits akzeptablen Formulierungen gesucht, im Gegenteil, es werden auch stark subjektiv geprägte Stellungnahmen beider Seiten vorgelegt. Dies hilft den Tschechen, aber die deutschen Leser müssen noch auf eine Übersetzung warten.   

-           Viele Westdeutsche (wiederum differenziert) waren am Ende des Kalten Krieges (teilweise) mit Recht davon überzeugt, viel mehr zu wissen, als die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang erfahren konnten. Ist dies der Grund, weshalb sich das Bild, die Vorstellungen, Erinnerungen und Kenntnisse vieler Sudetendeutscher nach 1989 längst nicht so erweiterten, ergänzten und differenzierten, wie es seither bei so vielen Tschechen geschehen ist? Auch auf (sudeten)deutscher Seite meldet sich schweigend der Nachholbedarf.

-           Es bewegt sich viel in den Köpfen und Herzen der Tschechen. Jeder Mensch in Tschechien, der Zeitung liest und die Nachrichten verfolgt, bekommt heute eine Vielzahl neuer Informationen über die grausamen Mißhandlungen, denen Deutsche gegen Kriegsende und in den Monaten danach ausgesetzt waren.

-           Bei vielen Deutschen, die sich intensiver mit den Beziehungen zu Tschechien befassen, hat sich ein positives, leider aber vereinfachendes Klischeebild herausgebildet – nämlich, dass die tschechische Jugend zu den Fragen der Nachkriegszeit eine andere (also kritische zu den Tschechen) Haltung einnimmt. Diese sehr positive Entwicklung der jüngeren Generation gibt es natürlich und sie ist ja fast auch selbstverständlich. Aber darüber hinaus sollte doch auch die weitgehende und differenzierte positive Meinungsentwicklung auch sehr vieler älterer Tschechen wahrgenommen werden.

-           Das Ableben der letzten Opfer sowie der Täter wird auf beiden Seiten nicht viel verändern, und das sollte man auf tschechischer Seite besonders gut wissen: denn fast sechs Jahrhunderte nach dem Tod des Reformators Jan Hus leidet die tschechische Gesellschaft noch immer unter den Folgen der damaligen blutigen Spaltung der Christen. Manche Wunde heilt schwer und lange. Bei Politikern und Medien ist es oftmals auch Berechnung: wie viele Stimmen, wie viele Leser, Zuschauer und Zuhörer mit dem Herausheben schmerzlicher Teile der Vergangenheit erreicht und angesprochen werden können.

-           Ist es Zufall, dass einige der Deutschen und Tschechen, deren Familien und sie selbst fürchterlich gelitten haben, seit Jahren besonders unermüdlich für gute Nachbarschaft, für Verständigung, ja sogar für Aussöhnung eintreten? 

-           Mein damals überwiegend deutscher Geburtsort Waltsch/Valeč bei Karlsbad wird im Buch sehr oft erwähnt. Mein Leben, Erfahrungen und Wissen wurden dadurch geprägt, dass ich in Waltsch einen Teil der Kindheit verbrachte und auch später den Kontakt zu dem Ort nicht verlor. Meine Frau und die Familien beider Töchter haben diese meine Liebe zu Waltsch geerbt.

-           Der Erinnerungsteil des Buches konnte so manche nüchterne Tatsache und die mittlerweile abstrakt wirkenden Opferzahlen durch die Beispiele der in jener Zeit lebenden, leidenden, hoffenden und auch sich freuenden Menschen für heutige Menschen begreiflicher machen. Sogar diejenigen, die auf grausame Weise ihr Leben lassen mussten, werden in unserem erwachenden Mitgefühl ein kleines Stückchen weiterleben.

-           Ähnlich wie vielen Deutschen, die nach dem Krieg sagten, sie hätten nichts von den KZ gehört, erging es auch vielen Tschechen, die ebenfalls so gut wie nichts von dem wussten, was Mitglieder der RG (Revolutionsgarde) vielen Deutschen angetan hatten. Deswegen enthält das Buch drei Berichte von damals jungen Deutschen über ihre schrecklichen Erlebnisse nach Kriegsende, die viele Tschechen mit Anteilnahme und Schaudern lesen.    

-           Die Information über die Märzgefallenen von Kaaden (und weiteren Orten) ist für viele Tschechen neu und ebenso haben die meisten (Sudeten-)Deutschen nicht viel über die weiteren Zusammenhänge jener Zeit erfahren und noch nie etwas von der tschechischen Darstellung der Ereignisse gehört. 54 Tote belasteten die junge Republik schwer. Da hilft auch die Tatsache nicht darüber hinweg, dass in der damaligen Revolutionszeit während des Aufstandes in Bayern 800 – 1200 Deutsche durch Deutsche ums Leben kamen. 

-           Drei Mal war ich beim Sudetendeutschen Tag, der alljährlich zu Pfingsten, dem Fest der Ausgießung des Hl. Geistes stattfindet. Drei Mal habe ich es miterlebt und jedes Mal sehr stark einen Geist gespürt, aber heilig war er nur in entsprechenden Teilen der heiligen Messe.

-           Die Begegnungen der Menschen beim Sudetendeutschen Tag sind eindrucksvoll und anrührend. Unsere früheren Bekannten habe ich gern wieder gesehen. Unsere ehemalige Nachbarin, die Kahabka Erna, fragte mich schon vor einigen Jahren: „Aber, euch Tschechen ist es doch im Krieg gut gegangen, warum war eure Rache so grausam, warum habt ihr uns vertrieben?“ Ich wundere mich nicht, da sie ja  weder von der Wirklichkeit des Protektorats, noch vom Plan der „Enttschechisierung des mitteldeutschen Raumes“ etwas erfahren hat.

-           Wer Vorwürfe zu hören bekommt, der wehrt sich. Man kann immer weiter in die Vergangenheit zurückgreifen und bei ein bisschen schlechtem Willen (manchmal auch bei Menschen guten Willens) vor jede Folge eine Ursache schieben. Ja, wenn man schließlich bei Adam ankäme, müsste man erkennen, dass er unser gemeinsamer Vater war – aber Gemeinsames für Tschechen und Deutsche zu entdecken, das wünscht sich doch nicht jedermann.    

-           Der Tschechoslowakei wird häufig vorgeworfen, dass sie keine zweite  Schweiz wurde. Aber es hätte ja ein Wunder geschehen müssen! Die ersten Jahre waren einfach noch zu „heiß“.  Die Tschechen spielten mit zu großer Begeisterung und zu eifrig die erste Geige. Die Deutschen konnten mit dem Schicksal einer zweiten (dritten – nach den Slowaken) Nation nicht zufrieden sein und empfanden den Verlust der Privilegien (welche sie als ihr gutes Recht betrachteten) als Zumutung. Die Substanz des „Schweizertums“ basiert jedoch auf dem Prinzip der (Eid-)Genossenschaft, ohne vertikale Reihenfolge – und dafür war die Zeit von 1925 bis 1933 zu kurz.

-           In zwei Jahrhunderten von 1648 bis 1848 standen dagegen ausreichend Zeit, Mittel, Möglichkeiten und Voraussetzungen zur Verfügung, um eine menschlich, sozial, religiös und auch national gerechte Gemeinschaft zu schaffen. Die Große Monarchie, wäre sie die Heimat gleichberechtigter Völker gewesen, hätte das Geschick Europas und sogar der Welt zum Guten verändern können. 

-           Das Verhalten der Befreiten gegenüber ihren früheren Unterdrückern steht im kausalen Zusammenhang mit den Umständen der Befreiung. Die Tschechen wurden von den Nazis (Deutschen) unterdrückt, das Programm der Enttschechisierung des „mitteldeutschen Raumes“, also Böhmens und Mährens, war bereits fertig – und das wussten die Tschechen damals sehr gut. Auch darum folgte die Vertreibung. 

-           Die „sanfte Revolution“ im November 1989 verlief deshalb sanft, weil es keinen wesentlichen Widerstand gab und die Unterdrückung gegen Ende der ideologischen Eiszeit auch nicht mehr ganz so hart war wie in den fünfziger Jahren. Im November 1989 riefen die Demostraten: „Nejsme jako oni.“ (Wir sind nicht wie sie – die Kommunisten). Die Kommunisten gaben die Macht u. a. auch deshalb ohne große Gegenwehr ab, weil sie keine Angst vor einer Bestrafung haben mussten. In den Maitagen 1945 war die Angst der Tschechen sehr groß, denn die Deutschen schreckten auch zum Kriegsende vor keinem Blutvergießen zurück und kämpften unsinnig bis zum letzten Augenblick – und an einigen Orten noch darüber hinaus. Gegen die zerfallende Macht der Kommunisten hat es letztlich ausgereicht, mit den Schlüsseln zu klingeln – gegen den Deutschen musste unter Einsatz des Lebens gekämpft werden. So war die damalige Überzeugung.

-           Außerdem, seien wir aufrichtig, verfährt man mit eigenen Diktatoren meistens (nicht immer) weniger hart als mit fremden Feinden? Auch die Entnazifizierung in Deutschland verlief gemäßigter als in Frankreich, Polen, Jugoslawien und der Tschechoslowakei.

-           Die Tschechen sind überzeugt, dass sie die Existenz des deutschen Volkes zu keiner Zeit bedroht haben, trotzdem wurden sie im eigenen Land von den Deutschen nicht nur auf grausame Weise unterdrückt und verfolgt: es waren Deutsche, die Pläne zur Germanisierung, Enttschechisierung, Vertreibung und Ausrottung der Tschechen vorbereiteten und bereits während des Krieges mit der Umsetzung begannen. Das wissen viele Deutsche nicht. Darüber aufzuklären ist auch nicht Aufgabe des Sudetendeutschen Tags, der Sudetendeutschen Zeitung oder der lokalen Mitteilungsblätter der Ortsgruppen der Vertriebenen.

-           Es handelt sich bei den Ereignissen der Nachkriegszeit nicht (nur) um kollek­tive Schuld – sondern vielmehr um kollektive Folgen. Wenn ein Wahnsinniger mit seinem Fahrzeug einen Unfall verursacht, können unschuldige Mitfahrer verunglücken und sogar unbeteiligte Passanten am Straßenrand ums Leben kommen. Die Tschechen hatten diesem Wahnsinnigen keinen Führerschein ausgestellt und trotzdem hat das tschechische Volk schwer gelitten und wird noch auf lange Zeit durch die Folgen der Nazipolitik benachteiligt sein.

-           Was nach dem Krieg (aber auch im Krieg) geschah, war fürchterlich und es war ein Fehler, dass sich die Tschechen nicht rechtzeitig damit auseinander gesetzt haben. Dies wird erst seit 1990 auf den verschiedensten Ebenen nachgeholt. So ist z. B. auf beiden Seiten wenig bekannt, dass ab September 1945 mehrere Tschechen wegen Gewalttaten und Mord, die sie in Internierungslagern begangen hatten, vor Gericht standen. Auch war das berüchtigte „Amnestiegesetz“ offiziell kein Generalpardon für Gewaltanwendung und Misshandlungen, wie es meistens begriffen wird.

-           Es ist unzulässig die Grausamkeiten der Deutschen und die der Tschechen zu vergleichen. In einem Fall handelt es sich um die organisierte Vernichtung der Juden, die entsprechend der nazistischen Ideologie als 'lebensunwert' galten, Im anderen Fall Führte die Verbitterung der Tschechen über die entwürdigende Besetzung ihres Landes (und die berechtige Angst vor den Risiken eines weiteren Zusammenleben mit der so feindlich handelten Deutschen in einen Staat) zu chaotischen und zum Teil unmenschlichen Exzessen bei der Vertreibung der Sudetendeutschen. Diese sind glücklicherweise zumeist in die Freiheit des Westens gelangten. Auch die im Osten waren wenigstens in einer sprachlichen Freiheit. Dass wir Tschechen uns so lange Zeit nicht mit diesen Exzessen, mit den Leiden und dem Tod vieler Unschuldiger, nicht auseinandersetzten, ist unsere Schande.

-           Im Winter 1959-60 hörte ich im Gefängnis von Opava/Troppau den Seufzer eines jungen Häftlings, der beim Versuch, den Eisernen Vorhang bei Eger zu überwinden, gefasst worden war und der erst bei der Amnestie im Mai 1960 in eine sehr relative Freiheit entlassen wurde. Für die Sudetendeutschen, die mit ihrem geringen Gepäck in Viehwaggons in die Reste des Deutschen Reiches „transferiert“ worden waren, muss es schwer zu begreifen sein, dass sie bereits 18 Monate nach Ende der Massenaussiedlung von Tausenden tschechischen Flüchtlingen nicht nur um ihre armseligen 20-50 kg Gepäck, sondern vor allem um den „Komfort“ und die Sicherheit der Viehwaggons beneidet werden. Diese Antikommunisten riskierten ihr Leben beim Versuch, auf dem Bauch kriechend, durch Finsternis, Wald und Stacheldraht, verfolgt von Hunden und den „eigenen“ Soldaten, oft Todesängste ausstehend, zu fremden Menschen in ein fremdes Land zu gelangen, dorthin, wohin zuvor arme, unglückliche Menschen zwar gegen ihren Willen, aber auf unvergleichbar sicherere Weise zu den eigenen Landsleuten gebracht worden waren. War das vielleicht die Strafe einer höheren Gerechtigkeit für die Härte der tschechischen Sieger gegen die deutschen Besiegten?

-           Auf deutscher Seite ist die Meinung verbreitet, ohne die Vertreibung der Deutschen wären die Kommunisten in der Tschechoslowakei nicht an die Macht gelangt. Richtiger ist: ohne den Zweiten Weltkrieg wären die Bolschewisten  weit im Osten geblieben. Die sowjetische „Befreiung“ hätte nicht stattgefunden und die Kommunisten wären nicht in die Lage versetzt worden, die Länder von der Ostsee bis zur Adria beherrschen zu können.

-           Auch Henleins Wahlerfolge im Jahr 1935 und insbesondere dann im Frühjahr 1938 sind nicht dasselbe wie der Wahlerfolg der Kommunisten im Mai 1946.

-           Die politische und moralische Verantwortung der Sudetendeutschen und der Österreicher ist wenigstens in einer Beziehung größer als die der Deutschen aus dem Altreich. Nach der Machtübernahme Hitlers verloren die Menschen in Deutschland jeden Zugang zu kritischen Informationen – und bekamen keine Möglichkeit, sich in einer freien Wahl legal gegen Hitler auszusprechen. Die Österreicher und besonders die Sudetendeutschen erhielten noch lange Zeit danach kritische Informationen aus der demokratischen Presse. Jede Kritik an Hitler wurde jedoch von einer wachsenden Mehrheit, die den Nazis glaubte, als Lüge abgelehnt. Es gab genügend Warnungen, aber der schöne Schein des Dritten Reiches war verlockender.

Dollfuss 17.6.1934: "Ich appelliere an alle "betont nationalen" Kreise und stelle an sie die Frage: Wollt ihr mit diesem Verbrechertum irgend etwas gemeinsam haben? Ich appelliere an Euch, restlos und klar den Trennungsstrich gegenüber solchen Methoden und gegenüber einer Weltanschauung, aus der heraus solche Methoden möglich sind, zu ziehen. Diesen Methoden gegenüber gibt es nur eine Stellungnahme, und die ist? Ich bin dagegen. Wer das nicht eindeutig sagt, ist mitschuldig."

Aber nicht nur Henleins Anhänger, auch der tschechische Kommunist Eduard Goldstücker hat später von sich und seinen Gesinnungsgenossen bekannt, dass jede kritische Information über die unmenschlichen Verhältnisse im „roten Paradies“ von ihnen als Verleumdung abgelehnt wurde.

-           Auf die arbeitslosen, hungernden Menschen wirkten die Verheißungen des Reiches des Bösen stärker als bürgerliche und demokra­tische Rechte, die ihnen weder Arbeit noch Brot geben konnten. Und darum – um Wesentliches nicht zu verschweigen – bringt das vorliegende Buch Informationen (die wahrscheinlich ausführlichsten, die der tschechischen Öffentlichkeit zugänglich sind) über die Anziehungskraft des Nationalsozialismus (KDF, DAF, Winterhilfswerk, NSV) und all dessen, was so überzeugend auf Sudetendeut­sche gewirkt hat.

-           Ich lehne die generelle Verteidigung der Sudetendeut­schen ab, sie hätten nicht geahnt, dass sie sich mit ihrer Entscheidung in den Dienst des Teu­fels stellten. Gewollt oder ungewollt, bewusst oder unbewusst hatten sie einzig und allein die nationale Freiheit vor Augen (und haben damit Tausenden sudetendeutschen Nazigegnern den Weg ins KZ geöffnet), und sie halfen weitgehend freiwillig und oft mit Begeisterung, die Tschechen zu unterdrücken und die Enttschechisierung vorzubereiten. Auch die Verlockung, Glied eines Reiches von Über­menschen zu werden und die Slawen wie Sklaven behandeln zu können, gab dem satanischen Anti-Evangelium weitere Kraft.

-           In einer Hinsicht sind wir Tschechen ärmer als viele andere Völker, in der Vergangenheit sprachen unsere Feinde fast ausschließlich deutsch. Diesem Umstand ist das Kapitel „Geographie der (Feind-)Freundschaft“ [Zeměpis (ne)přátelství] gewidmet. Die katholischen Polen wurden von protestantischen Preußen und orthodoxen Russen unterdrückt. Die Franzosen sahen Jahrhunderte lang ihren Hauptfeind in den Engländern. Auch das ist ein Grund, weshalb für uns Tschechen die tschechisch-deutsche Aussöhnung so wichtig ist, der Weg dahin aber schwieriger und langwieriger sein wird, als das bei der Versöhnung zwischen Deutschen und Franzosen der Fall war.

-           Zur Zeit der deutsch-französischen Versöhnung kurz nach Kriegsende war das Schuldgefühl bei den Deutschen noch sehr lebhaft vorhanden und allgemein haben die Deutschen den Franzosen ihre Nachkriegsvergeltung nicht vorgeworfen. Eine wichtige Rolle spielte hier die Gefahr des sich ausbreitenden sowjetischen Imperiums, die die Einbindung Westdeutschlands in die Gemeinschaft der freien Völker beschleunigte. Demgegenüber stärkte die unablässig wach gehaltene Angst vor den Deutschen die tschechischen Sympathien für Russland – das selbst allerdings mehr an Deutschland und den Deutschen interessiert war. Informationen dieses Buches über gute deutsch-russische Beziehungen bedeuteten für viele Tschechen eine Überraschung.

-           Ich komme zu folgendem Resultat: für uns, die Tschechen, ist es vergeblich und auch unnötig, in der Welt nach einem Freund, Partner und Verbündeten gegen die Deutschen zu suchen. Wir müssen uns den Problemen unserer  gemeinsamen Zivilisation stellen: Naturkatastrophen, klimatische Veränderungen, zur Neige gehende Rohstoffvorräte oder Konflikte der Zivilisationen. Der Weg zu mehr Sicherheit führt über die Anerkennung der Tschechischen Republik als souveränen, ebenbürtigen, demokratischen Staat. Darüber hinaus wird der Weg zur Versöhnung schon verwirklicht – vielleicht haben bereits Hunderttausende Tschechen deutsche Freunde, und ebenso viele Deutsche haben tschechische Freunde gefunden.

-           In den Zeiten des alten Österreichs fühlten sich die Deutschen als Mehrheit (sie befürchteten jedoch, diese zu verlieren). Sie waren überzeugt, höher zu stehen als die Slawen. Sie sahen in den kulturellen Leistungen der anderen – sofern sie diese zur Kenntnis nahmen – lediglich einen Versuch von Schülern, sich ihrem Lehrer anzupassen. Dann kam die erste Republik, die den Deutschen das Gefühl der unterdrückten Minderheit bescherte, das sich bald darauf durch die Verbindung mit den Volksgenossen hinter der Grenze zum Überlegenheitswahn wandelte. Im Protektorat haben deutsche Behörden, Institutionen und viele Einzelpersonen mit äußerster Härte gezeigt, wer der Herr und wer der Rechtlose ist. Weshalb wundert es manchen Deutschen, dass die Tschechen dazu neigten, den Ausgleich zur germanischen Überzahl und Übermacht beim großen russischen Volk zu suchen? Leider herrschten dort die Bolschewisten und diese zwangen die Tschechen mit aller Härte zum Dienst für ihre Weltmacht.

-           Da traditionell mehr aus dem Deutschen ins Tschechische übersetzt wird, so können tschechische Leser mehr über deutsche Ansichten erfahren, als umgekehrt. Ich wünsche mir sehr, dass auch Deutsche, und hier ganz besonders Sudetendeutsche, sich mit dem ganzen Buch bekannt machen können, denn dieses kurze Resümee kann kein Bild des ganzen sein.

-           Der Titel des Buches lautet „Die gestrige Angst“ und damit diese Angst eine gestrige bleibt, wende ich mich an das Gewissen einer großen Nation und appelliere an das Verständnis für das wesentlich kleinere Volk, dessen Angst zutiefst begründet war.

-           In der schönsten Novembernacht des Jahres 1989, als Helmut Kohl aus Warschau nach Berlin kam und den Fall der Mauer staunend und ergriffen mitfeierte, habe ich ganz klar etwas gehört, das ich danach nirgendwo auf dem Papier zu lesen bekam. Ich kann die Worte also nur aus der Erinnerung zitieren, so wie sie sich mir in Kopf und Herz eingeschrieben haben: „In der Stunde unserer größten Freude wollen wir, dass es auch die Freude unserer Nachbarn ist und dass niemand mehr Angst vor uns hat.“ So ähnlich klang die Botschaft des Großen und Glücklichen an alle Nachbarn, die in der Vergangenheit begründete Befürchtungen vor deutscher Größe hegten.            

            Am 19. Dezember 1989 sagte H. Kohl seinen begeisterten Zuhören in Dresden: „... es hat keinen Sinn, wenn wir nicht zur Kenntnis nehmen, dass auf dem Weg viele uns mit Sorgen und manche auch mit Ängsten betrachten. Aus Ängsten aber kann nichts Gutes erwachsen. Und doch müssen wir als Deutsche unseren Nachbarn sagen: Angesichts der Geschichte dieses (XX.) Jahrhunderts haben wir Verständnis für mancherlei dieser Ängste. Wir werden sie ernst nehmen. … dieses Selbstbestimmungsrecht macht für die Deutschen nur einen Sinn, wenn wir auch die Sicherheitsbedürfnisse der anderen nicht aus den Augen lassen. 

            „Die gestrige Angst“ ist kein übliches Buch, sondern ein schmerzliches Zeugnis unserer Zeit. Ich versuche damit, ein wenig Schutt der Vergangenheit abzutragen und durch einen Baustein für das gemeinsame Haus Europa zu ersetzen. Auf die westliche Zivilisation, der Deutsche und Tschechen gemeinsam angehören, auf die gesamte Menschheit warten noch zu viele und ganz andere Prüfungen.

 

-           Es ist eine notwendige Feststellung, dass man zwei Grausamkeiten nicht vergleichen, nicht gleichstellen kann. Jedoch ... das Naziregime hatte nach ihrer  perversen Ideologie und verbrecherischen Vorschriften und Gesetzen die Juden  technisch gut organisiert in den grausamen Massentod transportiert. Die Tschechen hatten dagegen drei Millionen Sudetendeutsche auf z. T. unmenschliche und chaotische Art und Weise in die nationale (im Osten wenigsten sprachliche) Freiheit vertrieben, ausgesiedelt und abgeschoben (vergleiche den nazistischen Termin „Abschiebbung der Juden“). Glücklicherweise für die Glücklichen, sind die meisten in die menschliche und bürgerliche Freiheit des Westens gelangen. Es ist unsere (tschechische) große Schande, dass wir uns so lang mit dem Leiden und Tod der so vielen Unschuldigen nicht auseinadersetzten.