Theodor Mayer: Böhmen und Europa

zit. aus Theodor Mayer: Böhmen und Europa, in: Bohemia 1, 1960, S. 9-21, hier S. 12 und S. 16f.

Die geopolitische Funktion Böhmens in Mitteleuropa wurde mit Recht so formuliert, daß, wer Böhmen in seiner Gewalt habe, Mitteleuropa beherrsche. Für die europäische Geschichte war es immer entscheidend wichtig, ob Böhmen zum west- oder osteuropäischen Staatensystem und Kulturkreis gehörte. Andererseits hat die Geschichte gezeigt, daß Böhmen für sich allein zu schwach war, über die natürlichen Grenzen hinaus eine dauernde Herrschaft zu begründen, ja sogar seine Selbständigkeit zu bewahren; es war aber zu wichtig, als daß die Nachbarn nicht den Wert und die Bedeutung Böhmens erkannt und es an sich zu ziehen versucht hätten. Deutschland gegenüber stellte Böhmen einen Keil dar, der vom Osten her in den deutschen Raum vorgeschoben war, der als Ausgangsposition für einen Angriff, aber auch als natürliche Verteidigungsstellung von entscheidender Bedeutung war. Schon der Krieg gegen Samo hat gezeigt, daß Böhmen von Deutschland aus durch Waffengewalt nicht dauern niedergezwungen und besetzt, als staatliche Individualität nicht völlig ausgelöscht wurde; im Mittelalter behielt es auch dann, wenn es an das deutsche Staatsgebilde eingegliedert wurde, seine Individualität und wurde nicht als eine eroberte Provinz behandelt, sondern blieb ein Annex mit sehr selbständiger Verwaltung und Verfassung, dem nur die volle Souveränität im zwischenstaatlichen Verkehr fehlte. Eine dauernde An- und Eingliederung erfolgte durch andere Mittel in erster Linie durch geistig-kulturelle Gewinnung und durch christliche Missionierung der Bevölkerung und im Zusammenhang damit durch friedlichen, vertragsmäßigen Anschluß an das Reich und damit an das Abendland.
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Für das Verhältnis Böhmens zum Reich und damit zum Abendland war die Tatsache wichtig, daß in Böhmen eine zahlenmäßig, wirtschaftlich und kulturell bedeutende deutsche Bevölkerung wohnte, die die Vermittlung und auch Verbindung mit dem europäischen Westen herstellte. Die deutsche Bevölkerung besaß seit früher Zeit eine gehobene Stellung, die Bürger der böhmischen Städte waren ursprünglich fast durchwegs deutsch, die deutschen Siedler auf dem flachen Lande hatten ein besseres Recht mitgebracht. Die politische Entwicklung im 13./14. Jahrhundert brachte eine Festigung des deutschen Elements, die allerdings schon im 14. Jahrhundert nachließ. Die Umwälzungen des Hussitensturmes wie später des Dreißigjährigen Krieges und dann wieder des 19. Jahrhunderts kamen in einem tiefgehenden Wandel der politischen und der nationalen Verhältnisse in Böhmen zum Ausdruck. Die Wissenschaft hat sich seit dem 19. Jahrhundert mit diesen Fragen beschäftigt. F. Palacky hat erklärt, daß die Deutschen als Emigranten, die aus ihrer Heimat vertrieben worden waren, nach Böhmen gekommen und von den Tschechen freundlich aufgenommen worden seien. B. Bretholz hat dem gegenüber die Theorie vertreten, daß die Deutschen in den Sudetenländern die Nachkommen der alten Markomannen und nicht deutscher Kolonisten des hohen Mittelalters seien. Th. G. Masaryk hat in einer Neujahrsansprache 1918/19 wieder die Anschauung von Palacky übernommen und daraus den Schluß gezogen, daß es in Böhmen zwei Völker gebe, von denen das eine, die Tschechen, die Rechte des Hausherren besäßen, und daß sich die Deutschen, die als Flüchtlinge ins Land gekommen seien, dieser Ordnung fügen müßten. Diese Lehre bedeutete, daß die Deutschen ein Volk minderen Rechts seien, daß sie nur ein aus Mitleid gewährtes Recht besäßen, das jederzeit zurückgezogen werden könnte, wenn die Tschechen als Hausherren das für angezeigt oder berechtigt halten würden. Die deutsche Geschichtsforschung ist diesen Fragen in umfassender und objektiver Weise nachgegangen; sie hat die Theorie von Bretholz abgelehnt, dafür aber die deutsche ‚Kolonisation’ und ihre Leistungen untersucht. Sie kam zu dem Ergebnis, daß das Recht der Deutschen in Böhmen einerseits auf den Privilegien, durch die sie ins Land gezogen wurden, sowie auf den Verträgen, die mit ihnen bei der Niederlassung geschlossen wurden, andererseits auf der von ihnen geleisteten Arbeit und deren Früchten, die dem ganzen Land Böhmen zugute kämen, beruhe, daß sie daher die gleichen Rechte haben sollten wie die Tschechen, sei es als Kollektivum, als Volk, sei es als Individuen.