Wie aus Flüchtlingen Vertriebene wurden

Eva Hahn, Hans Henning Hahn

Im Frühjahr erschien im Spiegel eine vierteilige Serie über die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa am Ende des Zweiten Weltkriegs. Spätestens seit Günter Grass' Novelle Im Krebsgang war das Thema in die Schlagzeilen geraten - und prompt erklärte die CDU/CSU in ihrem Wahlprogramm, dass "die Vertreibungsdekrete und -gesetze" Unrecht seien und die in der EU geltende Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit als "ein Schritt hin zur Verwirklichung des Rechts auf die Heimat auch der deutschen Vertriebenen" zu verstehen sei: "Das Recht auf die Heimat gilt." Deshalb sollen die Benesch-Dekrete "aus der Welt geschafft werden", wie der Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Johann Böhm, seit langem fordert.

Doch der vermeintliche Tabubruch ist gar keiner. Tatsächlich wurde in der Bundesrepublik oft und viel über das Leid der Deutschen im östlichen Europa geschrieben, und es wurde auch sorgfältigst dokumentiert. Dabei vermischte die bundesdeutsche Erinnerungspolitik Erinnerungen an Flucht und Vertreibung mit revisionistischen Ansprüchen, weil die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa nicht als eine legitime Entscheidung der Siegermächte anerkannt worden ist.

Den Anfang machte die Sammlung der Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen, das so genannte sudetendeutsche Weißbuch (hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung sudetendeutscher Interessen, München 1951). Dem folgte "das größte zeitgeschichtliche Forschungsvorhaben in den Anfangsjahren der Bundesrepublik" (Matthias Beer): die achtbändige Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa (8 Bände, Berlin 1954 - 1962). Unter "Dokumenten" verstand man Erlebnisberichte Betroffener, wobei man sich wenig Gedanken über deren historische Kontextualisierung machte.

Wenn Politiker ihr Mitgefühl für die Vertriebenen zum Ausdruck brachten, hatten sie nämlich meist anderes im Sinn als das Mitempfinden mit den Leidenden. "Wenn die Sudetendeutschen in diesen Tagen das Heimatrecht erneut geltend machen und damit der Weltöffentlichkeit in Erinnerung bringen, dass die politische Ordnung in ihren Heimatländern nicht auf der Grundlage von Gewalt und Unrecht aufgebaut werden darf, dann können sie versichert sein, dass die Bundesregierung und mit ihr die deutsche Öffentlichkeit hinter ihrer Forderung stehen", versicherte 1956 Theodor Oberländer, Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, seinen Zuhörern am Sudetendeutschen Tag. Sein Kollege Jakob Kaiser, Bundesminister für Gesamtdeutsche Fragen, erklärte: "Möge der Sudetendeutsche Tag in diesem Jahr der Weltöffentlichkeit erneut die Treue der Sudetendeutschen zur Heimat und die innere Rechtfertigung ihres Anspruches auf das Erbe ihrer Väter offenbaren."

Drei Jahre später, beim Sudetendeutschen Tag in Wien 1959, war die Botschaft des damaligen Bundesministers für Gesamtdeutsche Fragen, Ernst Lemmer, noch emphatischer: "Nachdem den Sudetendeutschen 1918 das Selbstbestimmungsrecht versagt wurde, brach 1945 über sie die Katastrophe der Vertreibung herein. Unzählige sind ihr zum Opfer gefallen, aber die Sudetendeutschen als Volksgruppe haben sie überstanden und auch in den Ländern, die sie aufgenommen haben, vielfache Beweise der Tüchtigkeit erbracht. Dieser Lebenswille und Lebensmut eines so schwer geprüften Volksteiles ist Unterpfand und Verpflichtung zugleich, im Ringen um das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen nicht zu erlahmen. Kein rechtlich denkender Mensch kann diesem Ringen seine Unterstützung versagen." Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung diente als "Beweisstück" und "eine besondere Art von Urkunde" dafür, dass die Umsiedlungen der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa von der Bundesrepublik nicht anerkannt und das "Heimatrecht" der Deutschen dort auch weiterhin beansprucht wurde.

Im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik spielte zweifelsohne das Erinnern an Flucht und Vertreibung eine bedeutende Rolle, aber es waren problematische Erinnerungen, die dieser Staat kultivierte. Die Vertriebenen erhielten einen prominenten Platz unter denjenigen, deren Leid man in Erinnerung zu bringen pflegte, doch wurde diese Erinnerung politisch instrumentalisiert. Es sei nicht human, kritisierte Heinrich Böll 1965, "einen Staat in ständiger Bodenlosigkeit zu halten und das Wort heimatvertrieben für Heimatvertriebenenverbände besetzt und in ständiger demagogischer Alarmbereitschaft zu halten, wie eine Reserve, die man notfalls, so nennt man es doch, ,hochspielen' kann".

Der politische Missbrauch lässt sich schon an der Sprache ablesen. Bei ihrer Ankunft wurden die Neuankömmlinge zunächst als "Flüchtlinge" bezeichnet, unabhängig davon, auf welchen Wegen sie ins Nachkriegsdeutschland gelangt waren. Viele waren geflüchtet, viele wurden brutal verjagt, andere ordnungsgemäß umgesiedelt, wie es die Übereinkunft der Siegermächte im Sommer 1945 in Potsdam vorschrieb, und einige, etwa die rund hunderttausend deutschen Antifaschisten aus der Tschechoslowakei, konnten sogar dort bleiben oder freiwillig gehen und den größten Teil ihrer beweglichen Habe mitnehmen. Aus den aktiven, suchenden und hilfsbedürftigen "Flüchtlingen" sind dann bald "Vertriebene" geworden: passive, leidende und Unrecht erduldende Opfer. Die Hilfsbedürftigen wurden wirtschaftlich und sozial integriert, erhielten den ehrenwerten Opferstatus, und so konnten sich die emotionalen Energien fortan gegen die "Vertreiber" wenden.

Ein signifikanter Sprachwandel. Die Bezeichnung "Vertriebene", die amtlich durch das Bundesvertriebenengesetz von 1953 eingeführt wurde, sprach dem Geschehenen den Charakter eines Unrechtsaktes zu und verlieh damit dem Anti-Potsdam-Revisionismus die nötige Legitimation. "Recht bleibt Recht", erklärte dann 1960 Bundespräsident Heinrich Lübke den Heimatvertriebenen in Stuttgart: "Gerade deshalb können wir uns auch aus der Achtung vor den Rechtsgrundsätzen nicht dazu verstehen, den Akt der Vertreibung für rechtmäßig zu halten. Auch eine nun schon fünfzehnjährige Gewohnheit kann ihm nicht die rechtliche Sanktionierung geben. Die Vertreibung aus der Heimat war, ist und bleibt ein Unrecht, Unterdrückung der Freiheit und schwere Verletzung der Menschenwürde. (. . .) Für eine neue, gute und gerechte Ordnung kann daher nur eine Revision des Unrechts eine solide Basis schaffen. Damit meinen wir eine Revision im Wege der freien Verhandlung unter freien Partnern. Solche Verhandlungen wären dazu angetan, das Recht auf die Heimat im Rahmen des Möglichen wiederherzustellen."

Die großen Dokumentationen der Leidensgeschichten der Vertriebenen in der Frühzeit der Bundesrepublik, die diese Entwicklung begleiteten, sind nicht aus der Empathie mit den Opfern entstanden. Es war keine oral history, wie wir sie heute kennen, als Versuch, mit Hilfe mikroskopischer Befragung menschlichen Erfahrungen nachzuspüren. Es waren vielmehr Dokumente, die "Beweisstücke" und "eine besondere Art von Urkunden" werden sollten. "Die mit dem Projekt verbundene politische und völkerrechtliche Zielsetzung, die mit der Betonung der Ausschreitungen gegen Deutsche unterstrichen wurde, bildete fortan das bestimmende Argument in den Diskussionen über die Dokumentation", schrieb der Historiker Mathias Beer in seiner Studie über die Entstehung der großen Dokumentation. Man sah in solchen Dokumentationen "einen entscheidenden Faktor in unserem Kampfe um die Wiedergewinnung des deutschen Ostens" und wollte zudem nachweisen, "dass die Vertreibung nicht ,human und in ordnungsgemäßen Formen' im Sinne des Potsdamer Abkommens erfolgt ist".

Für die deutsch-tschechischen Beziehungen in der Nachkriegszeit haben die in der Bundesrepublik kultivierten Erinnerungen an die Vertreibung bis heute ungelöste Probleme zur Folge. In der ersten großen sudetendeutschen Dokumentation schrieben die bis heute wichtigsten Figuren des sudetendeutschen politischen Nachkriegslebens in der BRD, Rudolf Lodgman von Auen, Hans Schütz und Richard Reitzner, dass die "Lösung des sudetendeutsch-tschechischen Problems" nur "im Rahmen einer größeren, über die deutsch-tschechische Frage hinausgehenden, das heißt europäischen Neuordnung stattfinden" kann. Es gehe dabei um den "Rechtsanspruch auf die seit nahezu tausend Jahren angestammte Heimat, auf Wiedergutmachung der Schäden und Bestrafung der Schuldigen".

Die "Austreibung der Sudetendeutschen" wurde so in die "sudetendeutsche Frage" umgedeutet. Die europäische Staatenordnung, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg entstanden war, habe der sudetendeutschen Volksgruppe das Selbstbestimmungsrecht aberkannt, und damit sei das "sudetendeutsche Problem" entstanden. Dieses habe der tschechoslowakische Vor- und Nachkriegspräsident Edvard Benesch durch die Vertreibung zu lösen getrachtet und sei deshalb "einer der Initiatoren der auf die Austreibung der Ostdeutschen bezüglichen Beschlüsse von Jalta und Potsdam" geworden.

Diese Interpretation, die den Zweiten Weltkrieg schlichtweg überging, entspricht bis heute dem Selbstverständnis sudetendeutscher Organisationen. Unter dem Deckmantel der Wissenschaft wurde sie in deutschen Universitäten und auch von der Bundeszentrale für politische Bildung verbreitet. Die individuellen Erfahrungen und die Opfer der Vertreibung wurden zum bloßen Instrument in den Bemühungen, die vermeintlich seit 1918 bestehende "sudetendeutsche Frage" zu lösen. In den sechziger Jahren wurden Dokumentationen zur "sudetendeutschen Frage" herausgegeben, in denen Flucht und Vertreibung nur noch eine sekundäre Rolle spielten, die sich auf den gesamten Zeitraum seit dem Ersten Weltkrieg bezogen. Die neueste und bisher umfangreichste zweisprachig herausgegebene "Dokumentation" zur Vertreibung der Sudetendeutschen, im Jahre 2000 erschienen, geht sogar bis 1848 zurück.

Der Anspruch der "Sudetendeutschen Volksgruppe" auf Anerkennung ihres "Heimat- und Selbstbestimmungsrechts" in der Tschechischen Republik ist bis heute von keiner der großen deutschen Parteien in Frage gestellt worden. Das Fatale dabei ist, dass die "sudetendeutsche Frage" seit einem halben Jahrhundert mit den Erinnerungen an individuell erlittenes Unrecht unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg vermischt worden ist und noch immer vermischt wird, sodass heute in Deutschland kaum jemand zu unterscheiden vermag, wann von dem einen und wann vom anderen die Rede ist. Das erlaubt es so manchem Heimatpolitiker, zu einem Trittbrettfahrer von Erinnerungsarbeit zu werden.

Der Historiker Hans-Ulrich Wehler erläuterte im Spiegel-Interview, dass "hier zu Lande niemand mehr Anspruch" auf die "ehemaligen Ostgebiete" erhebe: "Diese Gebiete, die jahrhundertelang von Deutschen besiedelt waren, sind für uns verloren. Das ist der Preis dafür, dass ein Land zweimal einen totalen Krieg riskierte." Gleichzeitig äußerte er jedoch auch seine Befürchtung, viele Deutsche könnten sich am Vorabend der EU-Osterweiterung fragen: "Warum soll man mit den Kindern dieser Täter in einer Union zusammenleben?" Damit werden die Konturen der hier propagierten "neuen" Form des kollektiven deutschen Gedächtnisses, die "einen Blick auf die Deutschen auch als Opfer möglich" machen soll, unmissverständlich klar gemacht: Es war einmal ein "deutscher Osten" und der ging verloren, weil die Deutschen zu viel riskierten und danach "Opfer" geworden sind; und nun kommt es auf ihre Großzügigkeit an, ob das künftige Zusammenleben mit den "Kindern der Täter" gelingt oder nicht.

So ganz neu ist diese Form des kollektiven Gedächtnisses nicht, und ihre Vorgänger haben der Welt nicht viel Gutes beschert. Es ist eine Gedächtnisform, die nicht mit den Erinnerungen der Nachbarvölker korrespondiert, die das Erinnerte nicht multiperspektivisch darstellt und der zerstörten Multikulturalität nicht gerecht wird. Darüber hinaus werden auch diesmal die Vertreibungsopfer missbraucht, ihre Leidensgeschichten unter althergebrachte historische Raumkonstruktionen subsumiert.

Die individuellen Erinnerungen und familiären Formen des Erinnerns wurden rasch in politisch determinierte Formen des kulturellen Gedächtnisses des verlorenen "deutschen Ostens" integriert. Viele Vertriebene haben sich dieser Entwicklung zu entziehen versucht: Die demokratischen Teile der Vertriebenen, viele internationalistisch eingestellte Linke sowie die im multinationalen Kulturmilieu Ost- und Mitteleuropas verankerten Bevölkerungsgruppen wie zum Beispiel die Juden standen dieser Form des Heimat-Gedächtnisses ohnehin fern. Schon immer gab es deshalb auch andere Erinnerungen an Flucht und Vertreibung in der Bundesrepublik. Deutsche Nachkriegsautoren - Siegfried Lenz, Horst Bienek, Peter Härtling, Johannes Bobrowski oder Günther Grass in seinen ersten Romanen - haben die Erinnerungen an den multikulturellen Osten und an die Katastrophe von Flucht und Vertreibung ohne deutsche Selbstbezogenheit und Dominanzanspruch formuliert und damit eindrucksvolle Erinnerungslandschaften geschaffen und bevölkert. Aber die Erinnerungslandschaft insgesamt blieb zerklüftet, denn angesichts der politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik blieben die "anderen" politisch marginal und vermochten es nicht, sich gegen Verbände und Parteien und deren Vergangenheitspolitik durchzusetzen.

Wenn Hans-Ulrich Wehler meinte, im Augenblick erhebe niemand Ansprüche auf die "ostdeutschen Gebiete", dann vergaß er wohl die Sudetendeutschen: Sie zumindest haben auf das "Heimat- und Selbstbestimmungsrecht für ihre Volksgruppe" in Tschechien keineswegs verzichtet, auch wenn sie heutzutage erst einmal von den Benesch-Dekreten reden, die auf ihrer Liste nur an der dritten Stelle stehen. Kein führender deutscher Politiker hat bisher gegen ihre Ansprüche auf das Heimatrecht in Tschechien protestiert und sich von ihnen ausdrücklich distanziert.

Geschähe dies, dann würde das bedeuten, die Vertreibung zu einer endgültigen und abgeschlossenen Geschichte zu erklären und deutlich zu dokumentieren, dass die deutsche Politik und die deutsche Gesellschaft mit den Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs ein für allemal ihren Frieden gemacht haben. Es geht nicht an, die Einigung Europas zu betreiben und dabei gleichzeitig eine Sprache an den Tag zu legen und Forderungen zu erheben, die überall in Ostmitteleuropa mit guten Gründen den Verdacht aufkommen lassen, man hege insgeheim Revisionsabsichten. Am Beginn des 21. Jahrhunderts gilt es, mit den Erinnerungen an Deutsche als Opfer anders umzugehen.

Die Tschechen haben in Bezug auf die Nachkriegszeit sicherlich ihrerseits noch ein Stück Erinnerungsarbeit vor sich, aber auch in der Bundesrepublik steht bis heute eine offene, politischem Druck widerstehende Auseinandersetzung mit der Nachkriegszeit und ihren Erinnerungen an die Vertreibung aus. Dass viele Deutsche auch Opfer sowohl des NS-Regimes als auch der Vertreibung aus Mittel- und Osteuropa waren, das würde heute wohl niemand mehr leugnen, dass aber viele bis heute auch Opfer des politischen Missbrauchs der Erinnerung an Flucht und Vertreibung sind, das müssen sie wohl selbst erst einmal entdecken.